Woher kommt der Name Urquiza?
Der Name „Urquiza“-Stil leitet sich ab aus der Bezeichnung des Stadtbezirks Villa Urquiza im Norden von Buenos Aires. Dieser Bezirk ist nach dem dritten argentinischen Präsidenten Justo José de Urquiza (1801 – 1870) benannt.
Die Bezeichnung des Stils war keine eigenständige Entscheidung der Gruppe, die diesen Stil kreiert, getanzt und entwickelt hatte. Tänzer anderer Gruppierungen gaben ihm den Namen „Urquiza“, weil seine Begründer/Vertreter aus dem Bezirk Villa Urquiza stammten, dort lebten oder sich dort mit der Gruppe (der „Barra“) getroffen hatten.
Wer hat den Stil entwickelt?
Urquiza als moderner Tango-Tanzstil entstand Mitte der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Als sein Gründer gilt Luis „Milonguita“ Lemos, auch genannt das „Geheimnis – el Misterio de Urquiza“. Er kam aus „La Siberia“, einem Gebiet im Bezirk Villa Urquiza, das dort liegt, wo sich heute der „Club Sin Rumbo“ befindet, zwischen der Avenida Crisologo Larralde und der Avenida Congreso sowie der Avenida De Los Constituyentes und Calle Diaz Colodrero. Das war damals die ärmste Gegend in Villa Urquiza, nur dünn besiedelt, aber mit Menschen, die den Wunsch nach einem eigenen Zuhause hatten und danach strebten, ein besseres Leben zu erreichen.
Ricardo „Chino Períco“ Ponce, ebenfalls ein wichtiger Vertreter des Urquiza-Stils, sagt über Milonguita: Seine Kleidung und die Schuhe waren massgefertigt, er wirkte einzigartig elegant und als Tänzer war er wie ein Engel.
Milonguita hatte die Mittel, um sich in den verschiedenen Bezirken von Buenos Aires nach Wunsch zu bewegen. So konnte er verschiedene Milongas besuchen und stieß immer wieder auf Neues, in einer Tango-Szene, die mit den Impulsen von „Petroleo“ und „Lavandina“ gerade eine starke Entwicklung im choreographischen Repertoire erlebte. Alles was er sah, machte er anders. Und so wurde er auch wahrgenommen: anders. Mit diesem Anderssein seines Tanzes wurde der Urquiza-Stil geboren.
Durch die lebendige, kräftige und geschmeidige Eleganz von Milonguita wurden existierende Figuren erneuert und andere neu erfunden. Damit weckte er aber auch sofort bei einigen anderen Tango-Begeisterten den Wunsch, ein bisschen wie er tanzen zu können, vielleicht sogar besser zu werden als er.
Dazu gehörten José „El Turco“ Brahemcha, Eduardo Clemente „Perita“, Miguel Mancini „Caga…“, Reinaldo „El Negrito“ Davila und Juan Luna. Sie waren die Mitglieder der ersten Generation, die um Milonguita den Urquiza-Stil prägte und ergänzte. Mit Milonguita realisierten sich die Vorstellungen, die aus dieser Gruppe kamen.
Zum Beispiel war Jose „El Turco“ ein starker Intellektueller des Tanzens und der Bewegung im Raum. Er war bekannt als jemand, der „den Tanz öffnete“. Er nutzte die vorhandenen Drehstrukturen, um die Drehungen im Raum zu versetzen und Figuren mit einer enormen Dynamik zu schaffen. Gleichzeitig hatte er eine erstaunliche Synthesefähigkeit und gab dem Stil eine sehr polierte und schlichte funktionelle Eleganz, im Einklang mit der Moderne. José nahm mich als seinen Lehrling im Jahr 1997 auf und verabschiedete mich als seinen Schüler im Jahr 2006.
Wie er hatte jeder in der Barra eine deutliche Persönlichkeit und besondere Stärken und Vorlieben. Man kann über alle diese Pioniere viel erzählen, das würde jedoch diesen Rahmen sprengen.
Welche Grundeigenschaften kennzeichnen den Urquiza-Stil?
Urquiza als Tanzstil hat sich aus der Suche nach Modernität im Tango entwickelt. Als Prinzip gilt, dass die Funktionalität die Schöpferin der Ästhetik ist. Daraus erwachsen Abgrenzungen zu anderen Tangostilen, sowohl darin, „was“ man tanzt (oder nicht tanzt), als auch darin, „wie“ man es tanzt.
Die grundlegenden Eigenschaften des Urquiza-Stils sind die Suche nach Symmetrie und Kontrast und das Streben nach Eleganz, die von der ursprünglichen Stabilität und Festigkeit in Richtung Duktilität und Elastizität wandert.
Diese Grundgedanken prägen alle Aspekte des Tanzes. Das zeigt sich auf den ersten Blick darin, „wie“ man als Urquiza-Tänzer im Unterschied zu anderen Stilen tanzt:
Die Haltung ist aufrecht, aber nicht steif und bleibt immer veränderbar, sowohl für die Herren als auch für die Damen, im Einklang mit dem gewünschten Ausdruck oder der gewünschten Bewegung.
Die Tänzer stehen parallel zueinander. Es wird eine enge Umarmung angestrebt, ohne dass das Paar zusammen „klebt“. Die Nähe wird durch Versetzung bewahrt und immer neu gefunden, die Körper gleiten in der Bewegung, ohne auf einem Punkt fixiert zu sein. Tänzer und Tänzerin stehen selbst und bleiben in ihrer eigenen Achse.
Im Urquiza-Stil sucht man immer nach Kontrast und Überraschungen, nicht nur in und durch Figuren, sondern bereits beim Gehen. Mittels Änderungen in der Fußtechnik, Variationen der Schrittgröße, Höhenänderungen (innerhalb von mehreren Schritten) und Tempowechsel vermeidet man das „Marschieren“. So tanzt man lebendig, ohne vorhersehbare Abfolgen und mit einer auf die Verstärkung des Ausdrucks gerichteten Explosivität.
Dabei werden die Tanzpartner die Unterschiede in Körperbau, Größe, Gemüt, Geschmack und Fähigkeiten berücksichtigen. Man wählt Elemente aus, die am Besten zu einem passen und hat auch keine Scheu, vieles wegzulassen.
Beim nähreren Betrachten werden auch choreographische Besonderheiten deutlich, die Urquiza von anderen Tangostilen unterscheiden. Hier geht es darum, „was“ getanzt wird:
Urquiza-Tänzer behandeln die rechte und linke Seite der Umarmung gleichberechtigt, d.h. im Unterschied zu anderen Stilen tanzen sie Figuren auch auf der linken (durch die Tanzhaltung „geschlossenen“) Seite der Damen.
Aus der Idee, stets kontrastreich zu tanzen, folgt, Figuren nicht zu wiederholen. Auch Strukturen, die auf Wiederholung basieren, wie zum Beispiel die „Kette“, werden deshalb abgelehnt und nicht verwendet.
Im Urquiza-Stil gibt man dem Tanz eine sehr deutliche und entschlossene Richtung nach vorne. Die Tänzer werden alle Figuren aus der Bewegung ausführen. Das gilt zum Beispiel auch für Ganchos, die man nur innerhalb eines ununterbrochenen Flusses (und nicht „im Stehen“) tanzt.
Aus diesem Grund gehören Wiegeschritte und alle „Pendel-Bewegungen“ im Urquiza nicht zum tänzerischen Repertoire.
Figuren, die die Damen und Herren in unvorteilhafter Pose zeigen, wie Volcadas mit geöffneten Beinen oder Sandwiches, gelten als unfein. Sie widersprechen dem Streben nach Eleganz und werden deshalb im Urquiza-Stil nicht getanzt.
Dazu kommen andere Feinheiten, die damit zu tun haben, „wann“ man tanzt. Urquiza-Tänzer werden die Musik, die mit ihrem Stil korrespondiert, sehr bevorzugen. Dazu gehören Tango-Stücke aus den 1940er und 1950er Jahren, vor allem von melodisch geprägten Orchestern. Sie entscheiden sich für Tangos, die ihnen die Verbindung von Symmetrie, Kontrast und Eleganz am ehesten ermöglichen, ohne sie zu stark auf den Rhythmus festzulegen. Andererseits werden Milonga und Vals selbstverständlich rhythmisch getanzt und gerne mit Zitaten älterer Stilrichtungen angereichert.
Auch die Frage, ob man überhaupt tanzt, ist für Urquiza-Tänzer sehr bedeutsam. El Chino Períco sagte zum Bespiel über José El Turco, dass dieser stets den richtigen Moment suchte, um auf die Tanzfläche zu gehen. Es kam ihm darauf an, bequem tanzen zu können. In diesem Sinn vermeidet man im Urquiza-Stil, eine zu volle Tanzfläche zu betreten. Ebenso kann eine ungepflegte Ronda, in der Tanzrichtung und Linien missachtet werden, ein Grund sein, nicht zu tanzen, auch aus Respekt gegenüber der Dame.
Wo wird der Tango heute im Urquiza-Stil getanzt?
Man kann dem Urquiza-Stil auch heute noch vor allem am Ort seiner Entstehung, in den Milongas in Villa Urquiza, Buenos Aires, begegnen. Dort wird der Tango häufig mit Ähnlichkeiten zu dem ursprünglichen Stil getanzt. Wichtige Tango-Salon-Elemente und gewisse Besonderheiten wie Haltung und Umarmung werden dort weiter gepflegt. Die anspruchsvolleren Figuren sind aber im tänzerischen Repertoire der Milongateilnehmer nicht häufig zu finden.
In Europa hat sich der Stil durch die Wirkung von einzelnen Vertretern in Berlin, aber auch in anderen Städten wie Mailand und Nantes etabliert.
Viele Menschen tanzen heutzutage Tango Argentino. Und viele Tänzerinnen und Tänzer, vor allem auch aus der nachrückenden jungen Tangogeneration, möchten nicht nur Schritte und Musik kennenlernen, sondern wollen auch mehr wissen über die Wurzeln des Tanzes und der Tangokultur. Das erklärt sicher das wachsende Interesse am Urquiza-Stil, der als moderner Tangostil die Tradition in besonderer Weise verkörpert. Ich bin mir sicher, dass die neue Generation für die weitere Stilentwicklung eine große Rolle spielt. Und ich bin sehr gespannt auf die neuen Impulse, die Urquiza von ihr erhalten wird.